Unsterblichkeit - Utopie oder Dystopie?
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Setting: In Neal Shustermans "utopischer" Welt sind die Menschen quasi unsterblich. Sie haben im Körper sogenannte "nanites", die sie bei Unfällen heilen und Schmerzen verhindern. Sollten sie doch einmal sterben (weil sie beispielsweise von einem Hochhaus springen), werden sie in Wiederbelebungszentren "zurück" gebracht. Auch das Problem des Alterns ist geklärt: Man kann sich einfach zurücksetzen lassen, das heißt, wenn man z.B. 50 ist und wieder jünger sein möchte, setzt man sich auf z.B. 23 zurück. Nun müssen Menschen auch in dieser Welt sterben, weil Babys geboren werden und die Menschen irgendwann keinen Platz mehr auf der Erde hätten. Dazu gibt es den Berufsstand der "Scythes", auf Deutsch: Sensen.
Plot: Citra und Rowan werden Azubis von Scythe Faradayund müssen sich mit dem einerseits privilegierten, andererseits gefürchteten Status der Scythe auseinandersetzen. Natürlich kommen sie sich hierbei näher ... Doch nur einer von ihnen kann am Ende ein Scythe werden und die erste Aufgabe des Gewinners wird fatale Folgen haben ...
Philosophie und Gesellschaftskritik: Ich empfehle Shustermans Buch nicht wegen der Liebesgeschichte zwischen Rowan und Citra (die hat mich gar nicht mal so sehr gepackt) oder wegen der Spannung und der Action. Was mir an dem Buch am besten gefällt ist der beinahe erschreckend genaue Einblick, den Shusterman in unsere Gesellschaft hat und die möglichen Lösungen, die er in seiner "Utopie" vorstellt (samt ihrer Konsequenzen). Ich werde im folgenden auf die verschiedenen gesellschaftlichen und philosophischen Aspekte eingehen:
- Künstliche Intelligenz: In Shustermans Welt hat sich unsere "Cloud" in eine künstliche Intelligenz mit Bewusstsein weiterentwickelt: den Thunderhead. Der Thunderhead ist also ein riesiges Datensystem. Außerdem gibt es in Shustermans Welt überall Kameras und Mirkofone, sodass der Thunderhead allwissend und allgegenwärtig ist.
Das klingt jetzt erstmal nach totalitärem Überwachungsstaat, aber so einfach macht es sich Shusterman nicht.
Der Thunderhead hat schließlich ein Bewusstsein und ist allgut. Er handelt nach moralischen Werten und kümmert sich um die Umwelt und die Menschen. Er organisiert alles vom Straßenbau bis hin zur Nahrungsbeschaffung. Bis jetzt bin ich skeptisch, was die Moralität des Thunderhead betrifft - es scheint zu gut um wahr zu sein, dass er nicht der übergroße Bösewicht der Trilogie ist, aber wir werden sehen.
Der Thunderhead hat außerdem die Regierungen abgelöst und ist Alleinherrscher über die Welt - eben, weil er unfehlbar ist und immer die beste Lösung für alles weiß. Außerdem ist er natürlich nicht korrupt, weil er nie an seinen eigenen Vorteil denkt. Wieder zweifle ich daran, dass man einer künstlichen Intelligenz die Macht über die gesamte Erde anvertrauen sollte, aber bis jetzt ist Shustermans Logik standfest.
So langsam wird ein Bild vom Thunderhead deutlich, das sich gar nicht so sehr von dem Bild eines Gottes unterscheidet. Beide sind allmächtig, allgut und allwissend (wobei der Thunderhead nicht ganz allmächtig ist, aber dazu später). Beide sind nicht greifbar und übermenschlich. Und ich als Nicht-Gläubige würde argumentieren, dass beide von Menschen geschaffen wurden. Gäbe es keinen Menschen mit Bewusstsein, dann könnte sich auch niemand einen Gott vorstellen, ergo gäbe es ihn auch nicht (religiöse Menschen werden mir hier widersprechen). Ich finde diese Parallelen zwischen einem technologischen "Gott" und den heutigen Religionen echt spannend!
Das Einzige, worbüber der Thunderhead keine Macht hat, sind die Scythes. Er hat schon früh entschieden, dass die Aufgaben der Geburt und des Todes in Menschenhand bleiben sollen. Auch diese Art von Gewaltenteilung ist wirklich interessant.
- Die menschlichen Folgen von Unsterblichkeit: Obwohl es die Scythes gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass man bis zu tausend Jahre alt wird. Der Tod ist für Menschen in dieser Welt also in weite Ferne gerückt. Was sind die Folgen, wenn man keine Angst mehr vor dem Tod hat? Laut Shusterman ist es eine Oberflächlichkeit der Menschen, die ohne Tiefgang in ihren langen Leben herumdümpeln - ohne wirkliche Ambitionen. Keiner braucht arbeiten, denn für Nahrung, etc. sorgt der Thunderhead. Armut, Kriminalität und alles andere, was uns heutzutage zu schaffen macht, sind von der Bildfläche verschwunden und was bleibt, ist eine gewisse Eintönigkeit. Bereits Kant schrieb, dass in einem Zustand des langen Friedens der Charakter von Nationen verkümmern würde (obwohl er auch ein Werk namens "Zum ewigen Frieden" schrieb, aber wir stecken schließlich alle voller Widersprüche).
Ich finde es durchaus nachvollziehbar, dass wir Menschen ohne Nöte und Sorgen irgendwann nicht mehr zu tiefgehenden Empfindungen fähig wären. Auf der anderen Seite sollten wir trotzdem nach Frieden streben und keinen Krieg anfangen, bloß damit uns Emotionen wie Angst und Terror und damit auch ein Streben nach einer besseren Welt oder einem besseren Leben erhalten bleiben.
- Die Moral des Tötens: Nur wer kein Scythe sein möchte, ist würdig einer zu sein. Das ist die Philosophie von Rowans und Citras Mentor, dem Scythe Faraday. Schon wieder ein Widerspruch, aber ein durchaus bekannter. Bereits in Harry Potter heißt es, dass nur derjenige, der nicht nach Macht strebt, würdig ist, Macht zu tragen. Egal ob in der Politik, in der Lehre oder eben als Scythe; es ist ein ähnliches Prinzip. Große Macht heißt große Verantwortung. Speziell, wenn es um so etwas Schreckliches wie das Töten geht, sind moralische Prinzipien sehr wichtig. Das Thema steht in Shustermans Buch sehr im Vordergrund. Die verschiedenen Scythes, die wir im Verlauf kennenlernen, haben sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Töten und diese verraten viel über ihre moralischen Prinzipien. Ist es zum Beispiel gnädiger, die Menschen entscheiden zu lassen, wie sie sterben? Sollte man ihnen Zeit geben, sich von den Liebsten zu verabschieden? Oder ist ein unmittelbarer Tod der gnädigste?
Es sind Fragen, die auch für uns relevant sind, auch wenn wir nicht in dem Luxus (ist es Luxus?) leben, über unsere Todesart oder unseren Todeszeitpunkt zu bestimmen. Aber sicherlich fragt sich der ein oder andere, ob er lieber plötzlich sterben möchte (z.B. in einem Unfall) oder lieber Zeit hätte, sich zu verabschieden (z.B. bei einer unheilbaren Krankheit). Ich habe das Gefühl, dass wir bereits heutzutage das Thema Tod beiseite schieben, weil es ein durchaus unangenehmes zu sein scheint, dabei gehört es doch zum Leben dazu wie die Geburt. Ich frage mich manchmal, ob Anti-Falten Cremes und Botox deswegen so populär sind, weil wir durch ein jüngeres Aussehen das Alter und damit den Tod weit von uns schieben wollen.
Fazit: Ich könnte diesen Blogartikel noch locker verdoppeln, weil Shustermans Trilogie sehr viel Stoff für philosophische Diskussionen bietet, aber das hier genügt als ersten (und bereits sehr intensiven) Einblick. Ich kann die Scythe-Trilogie wirklich wärmstens empfehlen, wenn ihr auf der Suche nach einer guten Utopie/Dystopie seid (ob es eine Utopie oder Dystopie ist, lasse ich mal offen). Sie ist wirklich sehr tiefgehend und gleichzeitig spannend und actiongeladen. Wenn ihr die ersten beiden Bücher gelesen habt (das zweite Buch heißt "Thunderhead"), dann schreibt mir gerne bei Facebook, was euch am meisten interessiert und zum Nachdenken angeregt hat.